"Center the Void"
The Big Leppinski
ROSE018 - Modern Jazz
CD (Digipack), no format - VÖ: 14/10/2022
Spieldauer: 57:24 min
Track list:
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The Arse of Earthly Delights — 6:40
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The Road — 8:58
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Center the Void — 9:08
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Lightyears — 8:40
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Fraktal — 10:45
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Eastside — 13:11
Besetzung:
Agnes Lepp: vocals, lyrics, composition Filip Wisniewski: guitar, composition, arrangements
Gustavo Strauss: violin
Markus Harm: alto sax, soprano sax, clarinet, alto flute
Joachim Lenhardt: tenor sax, clarinet, bs clarinet, flute
Marko Mebus: trumpet, flugelhorn
Eberhard Budziat: bass trombone, tuba
David Soyza: vibraphone
Klaus Sebastian Klose: bass
Thomas Wörle: drums
So voll kann Leere klingen
Wie rückt man etwas in den Mittelpunkt, das es nicht gibt? Wie fokussiert man die Leere (engl. „void“), wie das Nichts? Dieser Frage gehen Agnes Lepp und Filip Wisniewski in Tentett-Besetzung auf ihrem aktuellen Album „Center the Void“ nach. Welche musikalische Antwort sie auf diese philosophische Frage finden, ist auf sechs Stücken nachzuhören. Rhythmisch komplex, detailreich und trotzdem klar arrangiert, verbinden sie Jazz, Klassik, Neue Musik und Einflüsse aus Alternative-Rock.
Um das gleich vorwegzunehmen: Bei „Center the Void“ geht es um Gegensätze. Im Leben, der Welt, im menschlichen Dasein. Nähe und Distanz, Erstehung und Untergang, Klarheit und Komplexität, Weite und Enge, Ying und Yang, Fülle und Leere. Dass man da an Gaspar Noés Filmtitel „Enter the Void“ mal eben ein großes „C“ dazu hängt, um all das Paradoxe zum Ausdruck zu bringen, lag für das Duo auf der Hand. Unterhält man sich mit Agnes Lepp und Filip Wisniewski über deren Musik, wird schnell deutlich: Hier haben sich zwei Seelen- und „Art“-Verwandte gefunden, wovon nicht zuletzt die Verschmelzung beider Nachnamen hin zu „Leppinski“ Zeugnis ablegt. Er der Gitarrist, Komponist und Arrangeur, sie die Sängerin und Textdichterin, die den Kompositionen eine Stimme verleiht, ein Gesicht gibt, sie um eine wesentliche Ebene bereichert. „Ich bewundere seine grenzenlosen kreativen Ideen. Seine Musik ist stilübergreifend, eingängig, aber doch oft komplex zu interpretieren“, erzählt Agnes über ihren Partner. Filip ergänzt: „Agnes kann so gut wie niemand anders meine Ideen musikalisch umsetzen. Es gibt einfach keinen Ersatz für sie“. Klingt romantisch? Ist es auch, ohne es jedoch sein zu wollen.
Diesen kreativen Nukleus gibt es als Duo Leppinski 2, als Trio Leppinski 3, dann um keinen geringeren als den vielseitigen Tenor-Saxophonisten und Jazz-Echo-Preisträger Lutz Häfner ergänzt, und eben in der hier vorliegenden XXL-Variante als Tentett The Big Leppinski. Durch die überaus facettenreiche Instrumentierung und mit prominenten Spielern der Nürnberger, Kölner und Münchner Jazzszene besetzt, weitet Arrangeur Wisniewski das hörgewohnte Jazz-Alltags-Klangspektrum. Neben Gesang und Gitarre, komplettiert er mit Violine, Vibraphon, Saxophonen, Klarinetten, Flöten, Posaunen, Tuba, Bass und Schlagzeug das Ensemble, kreiert ein Jazz-Orchester, das die klassischen Instrumentengruppen eines Sinfonieorchesters abbildet. „Ich komme aus einer Opernfamilie, saß als Kind viel im Musiktheater. Das hat mich stark geprägt“, verrät Wisniewski. Angelehnt an die Third-Stream-Bewegung der 1950er Jahre stehen auch in seinen Kompositionen U- und E-Musik gleichberechtigt nebeneinander, heben Grenzen auf. Bob Brookmeyer, Igor Strawinsky, Radiohead oder die Metalband Dillinger Escape Plan sind nur die Eisbergspitze in Wisniewskis Musikweltmeeren. Er agiert dabei wie ein Fotograf, der mal den Fokus auf feinste Details verengt, mal den Blick weitet, auf das große Ganze. Inhaltich interessieren sich Leppinski für das Leben in all seinen Farben, all seiner Komplexität (nachzuhören zum Beispiel beim an Hieronymus Boschs Gemälde „Garten der Lüste“ angelehnten Titel „The Arse of Earthly Delights“), aber auch in all seiner Schön- und Einfachheit, wie in den Arrangements von Agnes Lepps Song „The Road“ oder im Intro zu „Eastside“. Szenen, Themen, Bilder dienen als Inspirationsquellen, sie verwandelt Wisniewski akribisch durchdacht - fast schon autistisch wie er selbst sagt - in Musik. Dass das nie verkopft klingt, liegt an seinem Gespür, sich in das Publikum hineinzudenken.
Und nicht zuletzt an Agnes samtig, weicher und trotzdem durchdringend klaren Stimme. Aber auch an ihrer Lyrik. „Songtexte werden im Jazz oft unterschätzt, scheinen keine so große Rolle zu spielen. Dabei erzählen sie die Hauptgeschichte“, schildert die Sängerin. Kennern der Jazzszene dürfte Agnes Lepps Stimme bereits vertraut sein: Sie war u.a. das musikalische Sprachrohr des preisgekrönten Ensemble 11 von Rebecca Trescher. Konzerte in verschiedensten Ensembles führten sie quer durch Europa, so auch zum internationalen Jazzwettbewerb „Jazz Hoeilaart“, bei dem sie im Duo mit Filip den 3. Platz erzielte. Agnes Lepp arbeitete mit John Ruocco, Edo Zanki, Bob Mintzer oder Jim McNeely. Wenn sie gerade nicht im Auftrag ihrer eigenen Musik auf Tournee geht, unterrichtet sie Jazz-Gesang an der Hochschule für Musik Nürnberg.
Mit „Center the Void“ ist Leppinski ein überaus spannendes, in jedem Moment überraschendes Album gelungen, das Stilgrenzen für nichtig erklärt. Eine Neuveröffentlichung, die man gehört haben sollte.